DER PLATTENSPIELER ALS MUSIKINSTRUMENT


Turntablism oder: Der Plattenspieler als Musikinstrument

Der Terminus „Turntablist“ wurde 1995 von DJ Babu geprägt, der der Auffassung war, daß ein Plattenspieler genauso zu spielen sei wie ein herkömmliches Musikinstrument. Wie ein Musiker, der Piano spielt, Pianist genannt wird, und der Cello-Spieler Cellist, nannte sich Babu als Turntable-Spieler demzufolge Turntablist.

Der Plattenspieler kann ähnlich einem digitalen Sampler verschiedene Sounds abspielen. Beide Instrumente verfügen jedoch nicht über interne Soundquellen wie Oszillatoren oder gespeicherte Wellenformen, sondern sie sind auf externe Speichermedien angewiesen. Der RAM-Speicher (Random Access Memory) des Samplers ist dabei mit dem leeren Plattenteller zu vergleichen. In das RAM können alle denkbaren Klangformen aufgenommen, abgespeichert und wieder geladen werden, je nach aufgelegter Platte kann auch der Plattenspieler aufgenommene Klänge wiedergeben.

Der Vorteil der Kombination aus Plattenspieler und Mischpult gegenüber dem Sampler ist, daß der Zugriff auf die Klangveränderung direkter ist. Während der Sampler alle Veränderungen, die mit dem Klang durchgeführt werden sollen, berechnen muß, gibt der Plattenspieler Informationen über Tonhöhen- oder Geschwindigkeitsveränderungen als direkte Information aus. Klangfarben- oder Lautstärkeparameterveränderungen werden auch analog, mittels des Mischpultes erzeugt, sie müssen keinen Umweg über digitale Prozessoren beschreiten.

Durch die vielfältigen ihm eigenen Spieltechniken ist der Plattenspieler jedoch ein Instrument, das die Bildung spezifischer Sounds ermöglicht. Eine bahnbrechende Stellung, was die Akzeptanz des Plattenspielers angeht, nimmt in diesem Zusammenhang das Stück „Rockit“ von Herbie Hancock ein, zu dem Grandmixer D.ST wichtige klangliche und rhythmische Aspekte beigetragen hat.

Um Scratching auch im Jazz einem größeren Publikum vorzustellen, plant Bill Laswell Remixe von mehreren Stücken Herbie Hancocks herzustellen. DJ-Größen wie Q-Bert, Roc Raida, Mixmaster Mike oder Rob Swift sollen die Plattenspieler wie eine Trompete oder ein Saxofon als Soloinstrumente einsetzten.

Bill Laswell ist Bassist und Produzent und hat an mehr als 200 Platten mit Künstlern von Mick Jagger, Herbie Hancock und Afrika Bambaataa bis Napalm Death mitgewirkt. Für ihn sind Plattenspieler ein Instrument, das sich wie eine Vielzahl anderer Instrumente benutzen läßt:

„Du kannst es mit dem Saxophon gleichsetzten, mit Drums oder Bass.“

Weiterhin sagt er:

„In1999, composition means the make-up, the putting together of elements - sound elements. [...] It´s based on catching and capturing sound elements and combining those with other sounds and structuring it towards a finished result. It´s not like writing for a symphony orchestra [...] because that´s an older, academic way of doing music.“(Übersetzung)

Die Kombination aus der dem Plattenspieler eigenen Klangfarbe und der potentiellen Reproduktion und Imitation aller Instrumente inklusive der Stimme macht ihn somit zum idealen Produktionsinstrument. In der Tat können mehrere DJs zusammen als mehrstimmiger Sampleplayer fungieren. Sie können die Stimmen wie in einer Band in Schlagzeug, Baß und z.B. Saxofonmelodie etc. aufteilen. Da unveränderte Naturklänge aber nur mittelbar reproduziert werden können, ist es fraglich, ob sich der Plattenspieler als „Multi-Instrument“ durchsetzten wird.

Außerdem bedarf das Ausgangsmaterial immer noch der Aufnahme des akustischen Instruments bevor es durch den Plattenspieler wiedergegeben oder bearbeitet werden kann.

Den akademischen Weg beschreitet Jason Bellmont, als DJ Radar Mitglied der Bombshelter DJs, mit seinem „Concerto for Turntable“. Er entwickelte zusammen mit dem Komponisten Raul Yanez eine Methode, die das Aufschreiben von Scratches in Notenform ermöglicht. Als Grundlage für die Transkription diente dem klassisch ausgebildeten Schlagzeuger Bellmont die Notationsweise von Percussion-
Instrumenten. Durch Bewegungsanweisungen für die Hände konnte er die Notenschrift so erweitern, daß sie für den sinnvollen Umgang mit Plattenspieler und Mischpult geeignet ist.


Das Konzert für Sinfonieorchester und Plattenspieler wurde am siebten März 2001 in Tempe, Arizona vom dortigen Universitätsorchester unter der Leitung von Joel Brown erfolgreich uraufgeführt. Der Solist DJ Radar ging als Welterster „Konzert-Turntablist“ in die Geschichte ein und es gelang ihm, die Tradition der „klassischen“ Musik mit der Tradition der „Turntable“ Musik zu verbinden.
Das Zusammenspiel mit einem Sinfonieorchester erforderte besondere Sorgfalt was die Wahl des Klangmaterials angeht, da sich nicht jede Wellenform mit dem Klang eines Orchesters mischt. Auf die Wahl des Plattenspielers mußte DJ Radar ebenfalls besonderes Augenmerk richten. Die +/- 8% Pitch der Technics-Plattenspieler ermöglichen nur einen Tonambitus von ungefähr sechs Halbtönen, womit nur einfache Tonfolgen gespielt werden können, weshalb er sich für das Modell PDX-2000 von Vestax entschied. Dieses bietet durch die bereits erläuterte Ultra-Pitch-Funktion genügend tonalen Spielraum für eine musikalisch ansprechende Melodieführung.

Auch beim Ineinandermischen mehrerer Stücke ist künstlerisches Gespür vonnöten, da ein unmusikalischer Mix ausgesprochen langweilig ist. Ist er gar vom Tempo unsauber, gleicht er einem nicht gestimmten Instrumentalensemble.

Wenn als Rohmaterial Ausschnitte bereits veröffentlichter Stücke anderer Künstler dienen, kann dies eine schlechte Kopie des ursprünglichen Stückes zur Folge haben. Benutzt der DJ das Klangmaterial jedoch in einem neuen kreativen Zusammenhang, kann er der Musikkultur neue Impulse geben. Herbie Hancock:

„Ich liebe es, gesampelt zu werden, denn sie nehmen meistens bereits verstorbene und verbuddelte Stücke. Sie wiederbeleben sie und hauen sie in ein Format, dass diese Stücke für viele zeitgemäße Hörer attraktiv macht.“

Das heutige Musikleben ist ohne DJs kaum mehr vorstellbar. Ein Großteil aller Tanzveranstaltungen wäre ohne sie nicht durchführbar. Auch in der Live-Musik-Szene hält der Plattenspieler immer mehr Einzug.

Viele innovative Musiker schätzen den Klang und die Möglichkeiten, die ein Plattenspieler bietet. Nicht nur bei Rockbands wie Limp Bizkit oder Slipknot spielen DJs als voll integrierte Musiker, auch Künstler wie Jack De Johnette oder Zakir Hussain akzeptieren DJs.

Andersherum ist es auch populär geworden, daß ein DJ sich Live-Musiker, z.B. einen Percussionisten zur Verstärkung für sein Disco- oder Hip Hop-Set angagiert.

Herbie Hancock spielte nicht nur mit „Rockit“ eine Vorreiterrolle. Auf seinem 2001er Album „Future to Future“ arbeitete er mit vielen anerkannten Künstlern aus der DJ-Szene zusammen, und versucht eine Brücke zwischen Jazz- und Hip Hop-Kultur zu schlagen . Umgekehrt nennen viele anerkannte DJs in Interviews neben Herbie Hancock auch immer wieder Musiker wie Miles Davis, John Coltrane, Buddy Rich oder Gene Krupa als ihre musikalischen Haupteinflüsse.

Der oben angesprochene Begriff des Turntablisten wird von vielen DJs adaptiert, jedoch von DJ zu DJ unterschiedlich ausgelegt. Für den einen ist ein Turntablist jemand, der die Plattenspieler in möglichst vielen Variationen einsetzt, für den anderen ist ein Turntablist jemand, der Musik ausschließlich mit Plattenspielern erstellt. Wieder andere sagen, daß der ein Turntablist ist, der mit Platten neue Musik macht, und daß es schon neue Musik ist, wenn man zwei Platten ineinander mischt.

„Die geistige Idee gestaltet das akustische Material zur Tonkunst.“

Die Frage was ein Turntablist genau ist, kann noch nicht abschließend beantwortet werden. Die Entwicklung des Turntablism ist bis heute nicht abgeschlossen, es ist eine junge Kultur, die in Bewegung ist. Technische Neuerungen, wie das Final Scratch System, werden jungen DJs andere Möglichkeiten als die der Platte eröffnen.

„Viele dieser Künstler schaffen es, einem Instrument, das es schon lange gibt, völlig neue und aufregende Sounds zu entlocken.“

Außerdem werden Notationssysteme für den Plattenspieler Türen aufstoßen, er wird einen noch besseren Zugang zu traditionellen Musikformen finden.
Einen Einblick in die Entwicklung des Turntablism ermöglicht der Vergleich von Grandmaster Flashs Stück „ The Wheels of Steel“, das 1981 alle bis dahin bekannten Feinheiten und Raffinessen des DJ-Tums beinhaltete mit einer Performance, die der junge DJ A-Trak 2001 zum besten gab.

Ich möchte diese Arbeit mit einem letzten Zitat von Herbie Hancock beschließen, der da sagt:

„Das einzige, was zählt, ist das Endergebnis. Wie klingt es und wie fühlt es sich an? Wenn es sich wie Musik anfühlt, dann muss es auch Musik sein.“